Experten diskutieren den Status quo und die Zukunftsperspektive der Bevölkerungswarnung
Angesichts aktueller Ereignisse wie der Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten sowie der zunehmenden Zahl von Naturkatastrophen ist das Thema Sicherheit und Sicherheitssysteme hochaktuell. Die Gründe und das Ziel der Katastrophenvorsorge sind oft die gleichen. Die Systeme und Prozesse dahinter unterscheiden sich jedoch deutlich, auch innerhalb des deutschsprachigen Raumes.
Diese Unterschiede sowie den aktuellen Stand der Sicherheit und der Alarmierung haben wir anlässlich unseres 40-jährigen Jubiläums genauer unter die Lupe genommen. Geschäftsführer Kockum Sonics, Pascal Loretz, Zivilschutzbeauftragter und Kantonsadministrator Zug, Robert Ascher sowie 3 deutsche Experten unserer Partnerfirmen teilten ihr Wissen und ihre Erfahrungen im Rahmen einer Podiumsdiskussion. Nachfolgend finden Sie die wichtigsten, interessanten und teilweise überraschenden Informationen aus diesem Austausch:
Thema: Akutelle Sicherheitslage im Vergleich zu vor zehn Jahren
In Deutschland wurde Ende der 80er Jahre und mit dem Ende des Kalten Krieges die Sinnhaftigkeit von Sirenen infrage gestellt und in der Folge ein Großteil der Sirenen abgebaut. Die Ahrtalkatastrophe von 2021, bei der durch ein massives Hochwasser über 135 Menschen ums Leben kamen und Sachschäden in Milliardenhöhe entstanden, hat bundesweit zu einem sicherheitspolitischen Umdenken geführt. Mangelhafte Alarmierung und fehlende Massnahmen zur Katastrophenvorsorge wurden stark kritisiert.
“Was früher undenkbar schien, ist vor drei Jahren Realität geworden – eine Tragödie mit unvorstellbaren Folgen. Die Katastrophe im Ahrtal zeigt, dass oft erst nach einem schrecklichen Ereignis, also zu spät und reaktiv, auf Gefahren reagiert wird. Hier muss ein Umdenken stattfinden” sagt einer unserer deutschen Partner und Sirenen-Projektleiter und erklärt: “Plötzlich war das Sicherheitsbewusstsein wieder da – jede Gemeinde bei uns wollte ihr Sirenennetz ausbauen. Massive Subventionen führten zu einem regelrechten Boom. Viele Aufträge und wenige Anbieter – das merkt man bis heute – viele Projekte sind im Verzug, weil die Nachfrage grösser ist als das Angebot”.
Herr Loretz kommentiert: “In der Schweiz haben wir zwar seit Jahrzehnten ein gut ausgebautes Sirenennetz. Aber ich gebe dir völlig recht – ich hätte zum Beispiel nie gedacht, dass Sirenen als Warnsystem für Gefahren wie Kriegssituationen jemals wieder gebraucht werden. So traurig es ist – der Krieg in der Ukraine zeigt, dass man auf alle Szenarien vorbereitet sein muss.“
Thema: Unterschiede Alarmierung & Warnung zwischen Schweiz & Deutschland
In der Schweiz gibt es nur die Signale Allgemeine Warnung und Wasseralarm – keine Sprachalarmierung. Für die Auslösung ist der Zivilschutz / Bevölkerungsschutz zuständig.
In Deutschland gibt es die Signale Warnung, Entwarnung und Feueralarm. Die Verwendung von Sprachkonserven ist ebenfalls möglich. Die Signale Warnung und Entwarnung sind die Warnsignale des deutschen Bevölkerungsschutzes und werden von dessen Institutionen verwaltet. Der Feueralarm hingegen wird von den einzelnen Feuerwehren verwaltet und auch über eigene Sirenen ausgestrahlt. Einer der deutschen Experten stellt fest: “Die höhere Anzahl an Signalen ist problematisch, da die Bevölkerung ohnehin nicht ausreichend auf die Reaktion auf Alarmsignale vorbereitet ist – das eigene Feueralarmsignal führt zu Verwirrung”.
Thema: Verhalten der Bevölkerung im Ernstfall - wie gut sind wir wirklich vorbereitet?
Die Experten sind sich einig, dass trotz des jährlichen Sirenentests in der Schweiz und des Bundeswarntages in Deutschland das Bewusstsein für das richtige Verhalten im Alarmfall noch nicht ausreichend vorhanden ist. Fragen wie “was bedeutet dieser Alarm”, “wie reagiere ich im Ernstfall” und “wo kann ich Schutz suchen” sind noch wichtige Punkte, für die mehr Bewusstsein geschaffen werden muss. Die Experten haben unterschiedliche Ansätze und Ideen, wie diese Situation verbessert werden könnte:
“Der jährliche Warntag reicht nicht aus, um die Dringlichkeit und eine angemessene Reaktion der Bevölkerung auf einen Notfall zu gewährleisten. Am Flughafen zum Beispiel, wo Sicherheit bekanntlich eine große Rolle spielt, muss man jedes Mal durch eine Sicherheitskontrolle. Warum legen wir nicht auch anderswo mehr Wert auf Sicherheitsbewusstsein? Meiner Meinung nach gehört Sicherheitsbewusstsein zur Allgemeinbildung. Schon in der Kindheit, in der Schule, könnte es geprägt werden. Eine wiederholte Auseinandersetzung mit dem Thema, z.B. alle 2 Jahre, würde sicher viel helfen.” – Meinung deutschen Experten
Problematisch ist aber nicht nur das mangelnde Bewusstsein für Notfälle und Katastrophen, sondern auch die teilweise fehlende Akzeptanz für die Warnsysteme. So berichtet einer unserer Partner, dass manche Bürger fragen, “ob die Sirenen bei einer Auslösung in der Nacht nicht auch leise aktiviert werden können”. Herr Ascher vom Kanton Zug meint dazu, “dass die Sirenen, gerade weil sie ein Alarmierungsmittel sind, laut sein MÜSSEN, um eine Weckfunktion zu gewährleisten”.
Thema: Einsatz von Sprachnachrichten in der Alarmierung
“Der Bevölkerungsschutz in der Schweiz hat im Bereich Sicherheit unter anderem drei wichtige Funktionen: Alarmieren, Warnen und Informieren“, erklärt Herr Ascher und fährt fort: „Mit dem Signal „Allgemeiner Alarm“ kann die Bevölkerung zwar alarmiert und gewarnt werden, für die Information muss aber auf sekundäre Quellen wie das Radio zurückgegriffen werden. Für ein umfassendes Sicherheitssystem ist die Bereitstellung von Informationen über Folgemaßnahmen jedoch mindestens ebenso wichtig. Die Diskussion über den Einsatz von Sprachkonserven sollte auch in der Schweiz angeregt werden.”
Herr Loretz ergänzt: “Der Einsatz von Sprachkonserven und Sprachdurchsagen mit Sirenen macht vor allem in ländlichen Gebieten Sinn, da hier in der Regel keine hohe Sirenendichte vorhanden ist. Im Gegensatz dazu kann der Einsatz von Sprachdurchsagen mit Sirenen in städtischen Gebieten aufgrund der hohen Sirenendichte problematisch sein. Zum einen können Latenzen zu einer verzögerten Wiedergabe der Sprachdurchsage und damit zu einer Überlagerung führen, zum anderen ist die Reichweite von Sprachdurchsagen aufgrund der Tonfrequenz deutlich geringer als bei herkömmlichen Alarmsignalen. Aber auch hier lassen sich Lösungen finden.”
Die Schweizer Experten sind sich einig, der Einsatz von Sprachkonserven und Durchsagen wäre auch in der Schweiz sinnvoll – Gespräche dazu sollen in der Sicherheitspolitik angeregt werden.